In der letzten Woche überschlagen sich die weltpolitischen Ereignisse. Es ist Krieg in Europa. Zwar gab es in den 1990er Jahren die Jugoslawien-Kriege, aber damals fiel nicht ein Land in einem anderen souveränen Land ein. Es war die gewaltsame Implosion eines Bundesstaats entlang der ethnischen Grenzen. Jetzt aber findet zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg eine Invasion einer Supermacht statt – zu Land, in der Luft und auf der See. Russland greift mit brutaler militärischer Gewalt die Ukraine an, die Ukraine verteidigt sich heldenhaft. Es ist eine Zeitenwende, es sind Tage, in denen jahrzehntelange Gewissheiten wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen.
Die Präsidenten beider Länder haben in den letzten fünf Tagen Videos veröffentlicht, die gedreht wurden, um möglichst vielen Zuschauern ein Bild von ihnen vermitteln.
Ohne Zweifel dürfen wir beide Videos als bewusste politische Selbstporträts ansehen, als mediale Image-Pflege, die zu 100% auf der Entscheidung des jeweiligen Präsidenten beruht. Im Fall von Präsident Putin ist das anzunehmen, weil in seinem Staat die Darstellung des Präsidenten naturgemäss seiner Kontrolle unterworfen ist. Im Fall von Präsident Selenskyj ist das anzunehmen, weil er im ersten Beruf Regisseur und Schauspieler ist und mediale Mittel bewusst einzusetzen vermag. Deshalb können wir davon ausgehen, dass sich beide Präsidenten mit ihrem medialen Bild identifizieren können und dass es beiden gegenüber fair ist, das gezeichnete Porträt ernst zu nehmen.
Beide Videos sind Inszenierungen. Wenn ich von Inszenierungen spreche, meine ich damit nicht, dass die gefilmten Ereignisse irgendwie nicht real wären oder nicht stattgefunden hätten. Es sind nonfiktionale Inszenierungen. Ich meine mit Inszenierung, dass beide Videos auf bewusst gefällten ästhetischen Entscheidungen beruhen – allerdings sehen wir hier auch eine Bestätigung der These des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski, dass die Wahl der Kamera-Einstellung immer auch eine moralische Entscheidungen sei.
Hier die Videos, unten eine einfache Analyse der Inszenierung:
Hier eine (nicht vollständige Liste), um die Inszenierung nachvollziehen zu können.
- Wie tritt der Präsident auf, wie kommuniziert er nonverbal und mit seiner Stimme? Schon hier zeigt sich ein grosser Unterschied: Die Pose von Präsident Putin ist gelangweilt, ungeduldig. Er spielt mit seinen Fingern. Er fordert seinen Geheimdienst-Chef auf, ehrlich zu sprechen – mit einer Stimme, die sanft klingt. Gerade diese Sanftheit wirkt aber unheimlich. Das hat auch mit dem Gesicht von Wladimir Putin zu tun. Ich habe alte Filmaufnahmen gesehen, wo Wladimir Putins Gesicht etwas Sensibles (vielleicht aber auch Schillerndes?) hatte. Man kann nachvollziehen, dass Russland Bevölkerung ihn damals mochte. Sein Gesicht hat sich in den letzten 20 Jahren sehr verändert. Ich möchte hier nicht mehr Worte verwenden. Nur so viel: Die Szene löst Hühnerhaut aus. Man glaubt als Zuschauer der Szene keinen Moment, dass man als Berater von Präsident Putin frei sprechen kann oder ihn sogar hinterfragen darf. Präsident Selenskyj dagegen wirkt jugendlich, offen, entschlossen, respektvoll. Er präsentiert zuerst seine nächsten Mitstreiter, dann sich selbst. Er spricht mit einer tiefen, festen Stimme, die keinen Zweifel lässt an seiner Entschlossenheit.
- Was kommunizieren die Gesichter der nächsten Mitarbeiter des Präsidenten? Das Gesicht von Putins Geheimdienst-Chef ist voller Angst und Unterwürfigkeit. Die Mitstreiter von Selenskyj wirken kampfeswillig, herausfordernd, aber nicht fanatisch. Sie fürchten sich nicht, obwohl sie objektiv in einer gefährlichen Situation sind. Es sind freie Gesichter.
- Was ist der Kontext der präsidialen Selbstportraits? Präsident Putin befragt seine Berater, ob Russland die Volksrepubliken Donezk und Lugansk anerkennen soll. Der Vorgang wirkt gestellt, auch ohne (im Nachhinein) zu wissen, dass Putin längstens die Invasion der ganzen Ukraine beschlossen hatte. Präsident Selenskyj dagegen dreht im Belagerungszustand nachts ein Selfie. Das ist das Meisterstück, gerade weil es so einfach wirkt. Er macht das, was alle Leute heute tun, nämlich Selfies aufzunehmen – was ihn nahbar, volksnah macht. Er braucht kein TV-Team, er dreht das Video selbst als Filmproduzent-Präsident. Das Medium Handy wird hier mit tiefer, menschlicher Bedeutung gefüllt. Das setzt neue Massstäbe für Kriegskommunikation im Zeitalter der sozialen Medien. Selenskyj widerlegt damit die “Fake News”, dass er schon aus Kiew geflohen sei. Aber das Selfie kommuniziert noch auf anderen Ebenen. Das Selfie spielt mit Assoziationen an Musikvideos: “Hier bin ich mit meinen Bros…” Trotz dem Ernst der Situation hat das Video etwas Schalkhaftes, Jungenhaftes. Es wirkt wie ein gelungener Streich, hat aber auch etwas von dem Mut der Verzweifelten.
- Wie ist der Raum des Videos beschaffen? Präsident Putin hat eine lächerliche, absurde Distanz zu seinen nächsten Untergebenen. Der Raum wirkt pompös und leer. Der Raum von Präsident Selenskyjs Video wird vorallem von menschlichen Gesichtern geprägt. Seine Mitarbeiter sind grösser gewachsen als er und umrahmen ihn. Anders als der russische Präsident scheut er die Nähe seiner Mitarbeiter nicht.
- Wie ist die Blickrichtung? Präsident Putin und seine Berater kommunizieren miteinander im Gegenschnitt. Präsident Selenskyj und seine Männer schauen alle in die gleiche Richtung.
- Wie sind die Kostüme? Im Selbstporträt von Präsident Putin herrscht eine formelle Atmosphäre, die Männer tragen Anzug. Selenskyj und seine Männer tragen Armeekleidung und legere Kapuzenpullover. Während Putin und seine Männer aus sicherer Ferne Entscheidungen treffen über “Volksrepubliken”, über Krieg und Frieden, über die Leben junger Soldaten, sich dem Kampf aber nicht selbst aussetzen, ist Team Selenskyj am Ort des Geschehens, an vorderster Front.
Ich bin überzeugt: Beide Porträts sind authentisch und gehen weit über das hinaus, was der jeweilige Präsident vorspielen könnte, auch im Fall des ehemaligen Schauspielers Selenskyj. Ich halte tatsächlich beide Videos für ehrlich – gewollt ehrlich im Fall von Selenskyj, entlarvend und ungewollt ehrlich im Fall von Präsident Putin.