Zwingli auf der Höhe unserer Zeit

Historienfilme, so genau sie auch sein mögen, sind immer ein Spiegel der Gegenwart.  Die besten Werke dieser Gattung widerstehen aber der Versuchung, die Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit einfach zu bestätigen. Sie rücken die Gegenwart durch ihre Spiegelung in der Vergangenheit in ein anderes, ihr fremdes Licht und lassen ihr dadurch neue Kräfte zufliessen.

Im Meisterwerk «Andrei Rubljow» (UdSSR, 1965) etwa wird der stalinistische Terror des 20. Jahrhunderts gespiegelt im Terror, welches das Volk in Russland schon im 15. Jahrhundert zu erleiden hatte. In der Figur des Mönchs und Ikonenmalers Andrei Rubljow wird der Gegenwart der 1960er Jahre dabei aber ein spiritueller Horizont (zur Überwindung des Traumas) eröffnet, der ihr selbst abhandengekommen ist.

Eine prophetische Deutung wäre nötig

Einen Zwingli-Film, der prophetisch unsere Gegenwart deutet, hätten wir dringend nötig: Der Zustand, den Zwingli antrifft – das Evangelium «eingeschlafen wie ein Siebenschläfer», die Bibel unbekannt, verdrängt – wäre das Spiegelbild unserer heutigen Krise. In diesem Film wäre nicht Ulrich Zwingli der Held, sondern das Wort Gottes, bzw. der auferstandene Herr Jesus Christus, welcher die Menschen, ganz nach Zwinglis Theologie, durch das Evangelium ruft.

Ein solcher Zwingli-Film wäre wie ein Fenster, das man aufreisst in einer Kammer mit abgestandener Luft. Diese Luftzufuhr suchen wir im Zwingli-Film von Stefan Haupt vergebens. Zwar will der Film historisch genau sein und enthält deshalb so angenehm Unzeitgemässes wie ernsthafte Gespräche darüber, was in der Bibel steht. Dennoch bleibt am Ende der Eindruck, dass die Gegenwart sich in der Vergangenheit spiegelt, ohne dass von dorther ein neues Licht auf uns gefallen wäre. Als Beispiel sei nur der Schlussmonolog der Witwe Zwinglis genannt. Wir sind bei uns selbst geblieben. Dem wirklich Anderen sind wir nicht begegnet. Ich wage es kaum zu schreiben und muss es doch tun: Gott bin ich nicht begegnet in diesem Film.

Das Evangelium ist machbar geworden

Zu Recht wird Zwinglis christliches soziales Gewissen, sein Kampf für die Armenfürsorge und gegen das Söldnerwesen betont. Doch das Evangelium dieses Zwinglis geht auf in der Geschichte. Es enthält nichts Fremdes mehr, kennt keinen Ausblick auf ein übernatürliches, von ausserhalb der Geschichte kommendes Reich Gottes. Es ist machbar geworden. Evangelium bedeutet hier: Sozialer Fortschritt, Überwindung der psychisch hemmenden Angst vor einem strafenden Gott, Befähigung zum selber Denken, Freiheit und Bildung für alle, Bejahung der Sexualität. Diese Liste enthält nichts, was nicht anschlussfähig wäre an den säkularen Mainstream in Kirche und Kultur, der auch hinter dem Film steht.

Ein evolutionäres Geschichtsbild

Beim Verlassen des Kinos kann man sich auf die Schulter klopfen. Man vertritt Zwinglis Werte, auch wenn man sie nicht mehr, wie er, theologisch begründet. Diese Hüllen haben wir abgestreift. Aber im Kern war Zwingli schon auf unserer Seite. Alle Interviews mit den Schauspielern und Filmemachern sprechen diese Sprache. Zwingli erscheint als Vorläufer der Aufklärung und eben – wen erstaunt’s  – als Mensch unserer Gegenwart. Und dort, wo er im Film bewusst zweideutig erscheinen soll, in seiner Rolle in den Kappeler Kriegen und der Bekämpfung der Täufer – dort ist dieser sonst so «helle Geist» einfach noch nicht auf der Höhe unserer Zeit. Aber auf dem Weg zu uns. Denn die von Zwingli angestossene Bewegung muss laut diesem evolutionären, fortschrittsgläubigen Geschichtsbild notwendig die beste aller Zeiten hervorbringen – unsere säkulare Gegenwart.

Nicht wir – Gott weckt auf!

Wir sind bei uns selbst geblieben. Bezeichnenderweise lässt man Zwingli im Film sagen: «Das Evangelium hat lange geschlafen, aber jetzt wecken wir es auf und tragen es in die Welt hinaus.» Wir (!) wecken es auf. Die Reformatoren hätten gesagt: Gott weckt auf! Gott stand für Zwingli im Zentrum. Christus weckt durch den Heiligen Geist Menschen auf, so dass das lebensschaffende Wort Gottes mit Klarheit und Gewissheit gehört wird.

Das Evangelium Zwinglis war das alte Evangelium der Bibel: «Die Hauptsache des Evangeliums ist kurz zusammengefasst die, dass unser Herr Christus Jesus, wahrer Gottessohn, uns den Willen des himmlischen Vaters mitgeteilt und uns durch seine Unschuld vom Tod erlöst und mit Gott versöhnt hat» (zitiert in: Opitz, Zwingli, 35). Wenn man dieses Evangelium hört und umkehrt, dann bringt es auch irdische Gerechtigkeit und Segen für Staat, Kultur und Wirtschaft.

Ein eindimensionaler Zwingli

«Gott liebt die Menschen. Auch wenn wir Fehler machen.» So heisst es an zwei entscheidenden Momenten in der Story des Films. Mit diesem Satz wird auch Werbung gemacht für den Film. Der Satz stimmt ja, und doch wirkt er falsch. Es fehlt das Evangelium. Anders als in der Reformation, dafür ganz im Geist des Neuprotestantismus, wird der einzelne Mensch nicht als erlösungsbedürftiger Sünder gesehen. Und wohl deshalb fehlt es der von Max Simonischek gespielten Titelfigur an Tiefe (vgl. auch die Filmkritik der NZZ). Dieser Zwingli steht nicht unter Hochspannung. Seine jugendliche Figur wirkt bei allem Bemühen um Durchbrechung der angeblich «zwinglianischen» Klischees eindimensional und flach – vielleicht deshalb, weil das Wort Gottes nicht durchlebt wird als kritisches und befreiendes Gegenüber auch für Zwingli selbst?

Handwerklich solide, aber mit zu kleinem Atem

Trotz dieser kritischen Anmerkungen – es lohnt sich, den Film anzusehen. Viele Szenen berühren. Handwerklich ist er solide. Die äusserlichen Elemente des Historienfilms (Szenenbild, Kostüme, Sprache, Musik) überzeugen. Ebenso überzeugen die Schauspieler um Zwingli herum, aber ihre Rollen waren auch einfacher. Nur das Drehbuch lässt leider zu wünschen übrig. Man spürt die erzählte Zeit von zwölf Jahren nicht. Der Film ist zu ökonomisch-gedrängt erzählt, zu wenig episch. Deshalb verknüpft das Drehbuch laufend Handlungsstränge, so dass sie «zufällig» innerhalb einer Szene zusammentreffen. Das wirkt dann wie Theater. Ausserdem geht dadurch der Reiz des Filmschnitts verloren: Die unsichtbare Entwicklung zwischen den erzählten, sichtbaren Momenten. Und wenn man auf hohem Niveau jammern will: Der zu kleine Atem des Films zeigt sich auch im Bild: Trotz seinem Budget von 6 Millionen Franken hat er chronisch zu wenig Statisten in den Massenszenen.

Geschickt erzählt aus der Perspektive von Anna Reinhart

Anna Reinhart – zuerst Nachbarin, dann Pflegerin, dann Geliebte, dann Ehefrau, dann Witwe Zwinglis – haucht dem Porträt dieses Theologen und Politikers Leben ein. Geschickt und berührend wird Zwinglis Geschichte über weite Strecken aus ihrer Perspektive erzählt. Die Pestepisode mit Zwinglis Pestlied ist wunderschön und bewegend. Sie geht mir nach. Neben vielen anderen Dingen gefällt mir in diesem Film die Idee der Tonschüssel. Sie inspiriert Zwingli, dem Pesttod nahe, zu einem Gebet («I bi dis Gfäss. Bruch mich oder brich mich!») und taucht am Ende dann, symbolisch aufgeladen, wieder auf.