Der Weltgebetstag ist eine jährliche ökumenische Veranstaltung, bei der Christen weltweit am ersten Freitag im März gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit beten. Jedes Jahr steht ein anderes Land im Fokus.
Dieses Jahr soll für Palästina gebetet werden. Die Wahl von Palästina hat mit dem aktuellen Krieg nichts zu tun, der ausgelöst wurde durch das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, dem blutigsten Pogrom gegen Juden seit der Schoah (dem Holocaust). Diese Wahl wurde schon vor Jahren vollzogen.
Abgesehen, dass ich die konsequente Bezeichnung des Landes als «Palästina» durch den Weltgebetstag problematisch finde – Palästina wird von der Schweiz nicht als Staat anerkannt – begrüsse ich die Idee, für die Menschen in den palästinensischen Gebieten zu beten, besonders in Gaza.
Die Liturgie des Weltgebetstages wird jeweils von Frauen aus diesem Land vorbereitet. Mir liegt die Broschüre «…durch das Band des Friedens» vor für den diesjährigen Weltgebetstag. Drei kunstvoll eingeführte Erzählungen aus der Innenperspektive palästinensischer Christinnen bilden das Zentrum der Liturgie. Jede Erzählung beginnt mit einem neuen poetischen Vergleich der Erzählerin mit einem Olivenbaum.
Daneben stehen Schriftlesungen und Gebete. In den Gebeten wird zu einem abstrakten «Gott*» (mit Sternchen!) gebetet. Gott wird niemals mit seinen biblischen Namen – «Vater», «Herr Jesus» – angebetet. Der Heilige Geist wird als «Heilige Geistkraft» angerufen. Damit wird aber der Heilige Geist, der gemäss dem Nicänischen Glaubensbekenntnis «der Herr ist und [der] lebendig macht», zu einer unpersönlichen höheren Kraft degradiert. Ich halte das für einen falschen Weg, aber nicht darum geht es mir jetzt.
Was meine Sorge und meinen Widerspruch weckt, sind die «Informationen zum Liturgieland» ab Seite 26. Hier wird gleich zu Beginn folgende Aussage gemacht:
Im Lauf der Geschichte hat Palästina die Invasion verschiedener Mächte erlebt, u.a. der Assyrer (8. Jahrhundert v. Chr.), Babylonier (ca. 601 v. Chr.), Perser (539 v. Chr.), Griechen (30 v. Chr.) und Römer (63 v. Chr.), Zur Zeit der römischen Herrschaft wurde Jesus geboren. Im 16. Jahrhundert fielen die Osmanen ein und beherrschten das Gebiet bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. 1917 sollte Palästina zu einer nationalen Heimstätte für Juden und Jüdinnen werden…
Diese Aussage löscht auf haarsträubende Weise die Präsenz eines Volkes Israels und verschiedener israelitischer/jüdischer Staatsgebilde in dem Gebiet von Israel/Palästina aus. Die jüdische Geschichte in Palästina lassen die Autorinnen um 1917 beginnen.
Die Verwendung des Namens «Palästina» für das erste Jahrtausend vor Christus deutet geschichtliche Fakten um. Erst im Jahr 135 n. Chr. gaben die Römer der Region, die zuvor das Königreich Juda und das Königreich Israel umfasste, den Namen «Palästina». Dieser neue Name erhielt die Region nach der Niederschlagung des letzten jüdischen Aufstandes. Auch hier sollte die jüdische Geschichte, die Erinnerung an Israel, ausgelöscht werden.
Die Verfasserinnen konstruieren ein «Palästina», das in einer Kontinuität seit der Antike steht – auf Kosten von Israel.
Der Name «Israel» kommt kaum vor in der Broschüre, und von einem jüdischen Staat Israel ist schon gar nicht die Rede. Indem man etwas konsequent verschweigt, zeigt man auch, was man davon hält. Die Gründung des Staates Israel von 1948 wird in den Texten dieser palästinensischen Christinnen nur als «Nakba» (arabisch für Katastrophe) erzählt.
Es ist nicht zu leugnen, dass es 1948 im Rahmen des Krieges zwischen Israel und den Arabern und den chaotischen Ereignissen Transfers von arabischen Bevölkerungsgruppen gab. Die Beschreibung und Bewertung dieser Vorgänge – so wie der ganze Konflikt – ist hochgradig kontrovers und komplex und wird auch von israelischen Historikern unterschiedlich vollzogen. Keinesfalls soll menschliches Leid auf Seite der Palästinenser aber in Abrede gestellt werden!
Ja, das heutige Elend der Palästinenser im Gaza bewegt auch mich und treibt mich ins Gebet. Wir sollten nur vorsichtig sein mit der Schuldzuweisung.
Die Einseitigkeit dieser Broschüre hat aber auch etwas mit Theologie zu tun. Die Rückkehr von Juden in das Land Israel und die Gründung eines jüdischen Staates im Jahr 1948 rufen theologische Fragen hervor.
Sind seit dem Neuen Testament Gottes Landverheissungen für die Juden immer noch relevant, immer noch gültig? Wie hängt das Partikulare der Landverheissung zusammen mit den Aussagen, welche die christliche Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde beziehen (universalisieren)? Wurde die Rückkehr der Juden nach Israel im 20. Jh. schon von den Propheten verheissen? Viele Juden und viele (evangelikale) Christen glauben das Letztere.
Inzwischen haben auch säkulare Medien das mitgekriegt. Dem Thema des «christlichen Zionismus» wird einige säkulare Aufmerksamkeit geschenkt. Oftmals wird der christliche Zionismus mit Endzeit-Sonderlehren assoziiert, die im 19. Jahrhundert auftraten. Und vorallem wird er in Verbindung mit der Ideologie des Kolonialismus gesehen.
Das Thema ist aber älter und kam mit der tiefen Lektüre der Heiligen Schrift seit der Reformation. Ein Theologe der Zeit der reformierten Orthodoxie, Johann Heinrich Heidegger, aufgewachsen in Bäretswil, später international geachteter Theologieprofessor in Zürich, schrieb 1666 ein Buch mit dem Titel Zeichen der Zeiten und Vorboten des Jüngsten Gerichts. Das Buch ist eine Auslegung des 32. Kapitels von 5. Mose als Prophetie. Heidegger arbeitet aber mit einer gesamtbiblischen Theologie und sieht Parallelen zu anderen Schriftstellen.
Heidegger glaubt, dass der Apostel Paulus mit «ganz Israel», das gemäss Römer 11,26 in der Zukunft gerettet werden wird, nicht das geistliche Israel (die Kirche) gemeint haben konnte. Er glaubt an die Bekehrung der Juden zu Jesus Christus vor dem Ende der Welt.
Tatsächlich kann auch ich Römer 9–11 nicht anders lesen. Wie lesen die palästinensischen Christinnen wohl diese Kapitel?
Paulus schreibt hier (Römer 11,28–29): «Hinsichtlich des Evangeliums sind sie [die Juden, welche Jesus Christus nicht annahmen] zwar [Gottes] Feinde um euretwillen, hinsichtlich der Auserwählung aber [Gottes] Geliebte um der Väter willen. Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar.»
Gott kündigt die Berufung Israels nicht auf – er verfolgt seine Heilsgeschichte im Verborgenen auch mit den Juden weiter und führt sie ans Ziel. Sie bleiben Gottes Geliebte, was aber für uns Christen kein Grund zum Neid ist, denn wir haben in Christus Anteil an ihrer Auserwählung und Gottes Liebe. Ganz anders sieht wohl der Islam diese Fragen. Wie weit sind die palästinensischen Christen beeinflusst von der muslimischen Kultur ihrer Umwelt?
Wenn das so ist, dann hält der lebendige Gott das jüdische Volk Israel trotz aller menschlichen Schuld durch alle Jahrhunderte am Leben, auch im geistlichen Sinn. Das Wunder der jüdischen Geschichte war für den berühmten Mathematiker und Philosophen Blaise Pascal, ein Zeitgenosse Heideggers, der beste Gottesbeweis. Vielen Christen ist das zu unserer Schande erst nach der Schoah bewusst geworden.
Brisant für unser Thema wird es, als Heidegger diskutiert, ob die Juden dann in der Zukunft in das «Land Kanaan» zurückkehren werden. Er sagt, in diesem Punkt stehe es jedem frei, zu glauben, was er in den Schriften vermeint zu sehen. Sicher werde es keinen jüdischen Tempel mehr geben, denn diese Juden werden laut Heidegger ja zum Christentum bekehrt sein. Heidegger bekennt schliesslich, dass er die Bibel nicht anders lesen kann, als dass die Juden in das gelobte Land zurückkehren werden, denn «dem Boden seines Volkes schafft er Sühne» (5. Mose 32,43 Zürcher Bibel). Das Land der Juden spielt bei Gott eine Rolle.
Das schreibt ein Theologe zur Zeit der calvinistischen Orthodoxie! Wirkungsmächtig scheint mir, was er schreibt, dass die künftige Geschichte es zeigen wird. In der Vorstellung des christlichen Menschen wird langsam ein Raum aufgetan in Bezug auf die Zukunft der Juden und des Landes Israel.
Es ist ein Raum der Hoffnung, der offen ist für Gottes zukünftiges Handeln. Wenn man mit Heidegger und vielen anderen Christen Römer 9–11 in diesem Sinn liest, muss man auch die Demut haben, dass Gott diesen Plan vielleicht anders erfüllen wird, als wir es uns vorstellen. «Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unausforschlich seine Wege» (Römer 11,33)!
Deshalb ist es nicht so erstaunlich, dass viele Christen die überraschenden militärischen Siege Israels gegen die angreifende arabische Übermacht im Jahr 1948 und im Jahr 1967 als Handeln Gottes in der Weltgeschichte der Gegenwart deuteten.
Wo ist bei den palästinensischen Verfasserinnen dieser Broschüre diese Offenheit? Wie können sie so sicher sein, dass es nicht Gott war, der handelte in der Rückkehr der Juden ins gelobte Land? Ist es ausgeschlossen, dass Gott darin souverän handelte, weil die Juden/Israelis, wie alle Menschen, auch Unrecht begehen? Wie würde es ihre Gebete ändern, wenn sie glaubten, dass Gott das Unmögliche getan haben könnte und das Unmögliche tun wird? Dass es nichts bringt, seinen Plänen zu widerstehen?
Das wäre vielleicht eher ein Beten in Gottesfurcht und ein Beten im Sinne des Friedens. Denn dass Gott so unverdient treu ist gegenüber Israel, hängt damit zusammen, dass er sich in Jesus Christus auch über uns erbarmt hat und auch uns Zukunft gibt. Das ist die wahre Hoffnung auch für die Palästinserinnen und Palästinenser.
«In Christus Jesus, seid ihr, die ihr einst fern wart, durch das Blut des Christus nahe geworden. Denn er ist unser Friede.» (Epheser 2,13–14).