Bei meinen Besuchen und Andachten im Alters- und Pflegeheim Blumenau (als Vikar in der Kirchgemeinde Bauma-Sternenberg ) lernte ich Herrn Manfred Beckerat kennen.
Woher kommen Sie, Herr Beckerat?
Ich wurde 1941 in Ostpreussen geboren, und zwar bei Tilsit. Tilsit heisst heute Sowetsk und liegt in Russland, in Kaliningrad. Aus Tilsit stammte übrigens der Tilsiter Käse. Meine Leute waren evangelische Deutsche, die aber alle auch litauisch sprachen. Meine Grossmutter hatte einen grossen Bauernbetrieb mit Melkern aus der Schweiz. Mein Vater war Schmied und Wagner. Ich hatte sechs Schwestern und bin der einzige Sohn in der Familie. Mein Vater war so stolz auf mich! Ich erinnere mich noch an folgendes: Ich durfte mit ihm in die Schmiede gehen. Er stellte mich auf eine Holzkiste, und ich durfte den Blasbalg ziehen. Da war ich vielleicht drei Jahre alt.
Wie war die Flucht aus Ostpreussen 1944/1945?
Es war ein sehr kalter Winter. Als die Russen näherkamen und man flüchten musste, hat meine Mutter vieles verpackt in Kisten und im Garten vergraben. Weil sie gedacht hat: «Wir kommen ja wieder.» Können sie denken! Dann ist meine Mutter, begleitet von der Oma, mit Kind und Kegel geflüchtet. Die Kinder sassen auf dem Pferdefuhrwerk, mit Decken zugedeckt. Meine Mutter hatte eben ein Kind geboren. Doch durch den ganzen Stress und die Flucht konnte sie das Kind nicht mehr ernähren. Sie hatte keine Milch mehr, und so ist ihr das Kind im Arm verhungert. Meine Mutter wickelte es in Lumpen, liess anhalten, machte ein Loch im Schnee, legte das tote Kind hinein, machte das Loch zu und stieg wieder auf. So kamen wir nach Frankfurt an der Oder. Mit Pferd und Wagen setzten wir über die gefrorene Oder. Da warteten Güterzüge auf uns. Dort hinein wurden wir auf Stroh gebettet, und nach Dänemark verfrachtet, bis zum Skagerrak hinauf, der Meeresenge zwischen Dänemark und Schweden. Unterwegs starb eine weitere Schwester. Wir waren ja alle unterernährt. Dabei hatten wir noch Glück: Andere Ostpreussen flüchteten mit dem Schiff. Über 3000 Personen waren auf einem Schiff, das in die Ostsee auslief. Da haben die Russen dieses Schiff versenkt. Am Skakerrag also war ein Auffanglager für geflüchtete Ostpreussen. Da wohnten wir in Holzbarracken. Ich erinnere mich, wie ich als Junge an dem grossen Zaun stehe und beobachte, wie ein grosser Eisbrecher den Skagerrak freipflügt.

Wie ging es von Dänemark aus weiter?
Erst 1947 konnten wir nach Deutschland umsiedeln, nach Unterfranken, im Nordwesten von Bayern, in ein 200-Seelen-Dörflein namens Eckartshausen. Alle Kinder von der ersten bis zur achten Klasse waren in einem Klassenzimmer. Aber dieser Lehrer war sehr gut, und ich habe viel gelernt von ihm. Wir wohnten bei einem Bauern. Unsere Mutter arbeitete auf dem Bauernhof mit, bei der Ernte und beim Kartoffellesen. Beim Füttern der Tiere. Und sie konnte ja melken!
Was war eigentlich mit ihrem Vater?
Mein Vater hatte schon vor dem Krieg einen Finger verloren und wurde deshalb nicht in die Armee eingezogen, musste aber in Berlin in einer grossen Werkstätte des Militärs arbeiten. Deshalb verliess er uns, und auch während allen den Jahren in Dänemark besuchte er uns nie. Nach Kriegsende war er in den Schwarzwald gegangen. 1952 zogen wir dann in seine Nähe. Da begann er, uns zu besuchen – mit seinem Motorrad. Aber er wohnte nicht mehr bei uns. Während dem Krieg hatte er nämlich in Berlin eine Liebschaft angefangen – mit einer Frau, die ebenfalls durch den Krieg getrennt worden war von ihrer Familie. Zusammen mit ihr hat er nochmals drei Kinder gehabt. Jetzt kam er uns mit dem Motorrad besuchen, ist aber immer wieder zurückgefahren. Zuerst war ich stolz auf ihn – wegen dem Motorrad. Das war eine Victoria-Maschine! Ich hatte meinen Vater ja vorher gar nicht mehr gekannt. Aber so mit 13 Jahren begriff ich, was da abläuft. Da begann ich, meinen Vater zu hassen. Da war er nichts mehr für mich! Für mich waren alle Männer, auf deutsch gesagt, Schweine.

Wann haben sie erfahren von den Nazis und ihren Verbrechen?
Überhaupt nie. Nie in meiner Kindheit. In meiner Schulzeit in Bayern ist nie darüber gesprochen worden. Die Kriegszeit war dunkel für uns. Die Eltern, die Geschwister – keiner hat darüber gesprochen. Oder sie haben gesagt: «Von dem haben wir alles nicht gewusst.» Erst in der Schweiz habe ich dann davon erfahren – im Kino! In Neuhausen liefen Filme über die Nazizeit. Da habe ich gesehen, was in Deutschland alles passiert war: Die Judenverfolgung und das alles. Das ist mir so eingefahren, dass ich mich geschämt habe auf der Strasse, ein Deutscher zu sein.
Wie begann ihr Leben als Erwachsener in der Schweiz?
Dank meinem Schwager fand ich Arbeit in Neuhausen – bei einer Autogarage. Dann lernte ich einen Deutschen kennen, der in Zürich lebte. Der sagte: «Du, Manfred, Arbeit finde ich für dich in Zürich!» Wir fuhren nach Zürich und schauten uns das alles an. Wir gingen in eine Opel-Garage in der Nähe vom Paradeplatz. Der Betriebsleiter hat uns gleich eingestellt.

Da war ich so Anfang 20. Wir jungen Deutschen sind am Freitagabend nach der Arbeit jeweils ins Hallenbad an der Sihlporte gegangen. Dort haben wir geduscht und schöne Kleider angezogen. Nachher sind wir zusammen Znacht essen gegangen, im Niederdorf, gleich beim Central. Da hat man gut gegessen. Pommes Frittes und Schnitzel so gross wie der Teller! Und oben war ein Tanzlokal. Dort habe ich meine Frau kennengelernt, zufälligerweise auch eine Deutsche. Später heirateten wir und bekamen zwei Töchter.
Welche Rolle spielt in Ihrem Leben der christliche Glaube?
Wir wurden sehr christlich erzogen. Selbst noch in Eckartshausen durften wir am Sonntagvormittag nicht raus. Meine Oma konnte nicht zur Kirche gehen, las aber zuhause ihre Bibel – auf litauisch! Vor dem Mittagessen sassen wir dann alle um einen grossen Tisch, und meine Mutter las aus der Bibel vor.

Das Beten hat mir meine Grossmutter beigebracht. Sie war eine kleine, magere Frau. Abends durfte ich ihr das Bett vorwärmen. Und wenn sie dann zu mir ins Bett kam, beteten wir:
Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.
Hab ich Unrecht heut getan, sieh es, lieber Gott, nicht an.
Deine Gnad und Christi Blut machen allen Schaden gut.
Dieses Gebet bete ich noch heute jeden Abend. Der Glaube hat mich mein ganzes Leben lang geführt, und er wird mich tragen, bis ich die Augen zumache. Davon bin ich überzeugt, so Gott mir hilft. Und wenn ich denke, was mir alles passiert ist – ich bin immer vom Bösen verschont geblieben. Ja, die Scheidung von meiner Frau war ein Tiefpunkt für mich. Ich war damals kein Chorknabe und habe – ohne wen und aber – meinen Teil dazu beigetragen. Für mich war das ein hartes Stück. Die Wege sind manchmal sonderbar.
Aber für mich hat sich alles zum Guten gewendet. Auch dass ich heute hier in der Blumenau bin. Hier fühle ich mich wohl.
Vielen Dank für dieses Gespräch.