Zur ethischen Frage der «Ehe für alle»

Dass eine Ehe auch aus zwei Menschen des gleichen Geschlechts bestehen kann, ist für viele Menschen der westlichen Kultur inzwischen selbstverständlich, ja, nicht mehr hinterfragbar.

Zwei Möglichkeiten gibt es, wenn eine Generation so radikal bricht mit den überlieferten moralischen Standards: Entweder war die Menschheit wirklich gefangen in dumpfen Vorurteilen, bis endlich das Gewissen erwacht ist. Oder diese Generation selbst befindet sich nicht mehr im Wachzustand. Für beides gibt es Beispiele aus der Geschichte. Auf der einen Seite: Die Abschaffung der Sklaverei in Europa und Amerika. Auf der anderen Seite: Die albtraumhafte Umgestaltung ganzer Gesellschaften durch kommunistische Ideologen. Wie, denken Sie, wird man einmal unsere Zeit beurteilen?

Gott hat gesprochen

Anders gefragt: Woher nehmen wir Gewissheiten in moralischen, ethischen Fragen? Für uns Christen ist entscheidend, wie Gott uns sieht und einmal beurteilen wird. Doch woher können wir das wissen? Weder bodenständige Intuition und Tradition, noch aufgeklärte Vernunft und fortschrittliches Milieu – und auch nicht die Demokratie – bewahren uns davor, dass wir uns irren und von Gott unser eigenes Bild machen. Das Alte Testament ist ein Mahnmal davon, dass Israel wiederholt von Gott abgefallen ist. Die Elite hat den Treuebruch bestimmt jedes Mal als Fortschritt empfunden.

Allein Gott kann uns sagen, wie er uns sieht. «Gott selbst hat zu den Vätern, Propheten und Aposteln gesprochen und spricht auch jetzt noch zu uns durch die heiligen Schriften», hält das Zweite Helvetische Glaubensbekenntnis fest – eine der wichtigsten Zusammenfassungen des reformierten christlichen Glaubens. Natürlich braucht die Bibel Auslegung. Das Alte Testament wird vom Neuen Testament her interpretiert. Wissenschaftliche Exegese hilft, den Autor möglichst so sprechen zu hören, wie er von seinen damaligen Hörern verstanden werden wollte.

Die «Confessio Helvetica posterior» in deutscher Übersetzung

Zur Ehe hat die Bibel viel zu sagen. Sie ist vom Schöpfer eingerichtet und hat in der gegenseitigen Ergänzung beider Geschlechter ihr Ziel, unter anderem in der fruchtbaren sexuellen Ergänzung. Homosexueller Geschlechtsverkehr wird im Alten und Neuen Testament unisono als Zielverfehlung (griechisch für «Sünde») gesehen. Der wichtigste Text findet sich im Römerbrief. Paulus nennt in Röm 1, 26–27 die homosexuelle Leidenschaft an der Spitze einer Liste von Folgen, die der Treuebruch gegenüber Gott in der griechisch-römischen Kultur nach sich zog. Einige heutige Theologen wenden ein: Paulus hatte nur ausbeuterische homosexuelle Beziehungen vor Augen. Menschen, die nach modernem Verständnis homosexuell veranlagt sind und gleichgeschlechtlich lieben, liegen nicht in Reichweite dieses Bibelworts. Ich denke, hier ist der Wunsch Vater des Gedankens.

Was Jesus dazu sagte

Von Jesus selbst ist bekanntlich kein Wort überliefert zu homosexuellen Beziehungen. Der wahrscheinlichste Grund: Er war mit dem Judentum seiner Zeit einig in dessen ablehnender Haltung.

Ja, wir alle sind Sünder, und am Tisch des Herrn Jesus haben gerade die Sünder Platz. Aber das Evangelium bedeutet auch: «Sündige von jetzt an nicht mehr!» (Johannes 8, 11)

Ich schreibe diese Zeilen nicht in der Hoffnung, die «Ehe für alle» könne noch verhindert werden. Ich schreibe, weil auch nach dem 26. September 2021 noch Christen da sein werden, welche nicht anders können, als diese Unterscheidung zu machen. Wie lange werden sie sich noch öffentlich äussern dürfen? Wird die neue Gewissensnot von Pfarrpersonen, christlichen Hoteliers und Standesbeamten überhaupt noch ins Gewicht fallen?

Dieser Text erschien in der September-Ausgabe des Kirchenboten des Kantons St.Gallen. Die Redaktion fragte mich an, ob ich vor dem Abstimmungssonntag einen Kontra-Beitrag in der Frage der «Ehe für alle» schreiben würde – wohl weil ich vor zwei Jahren als einer der Initiatoren der Erklärung «Habt ihr nicht gelesen…?» in der medialen Öffentlichkeit aufgetreten bin.