Die moralische Krise eines Reporters

Robert Coles ist ein Kinderpsychiater und Autor preisgekrönter Sachbücher. In seinem Buch «Doing Documentary Work» macht er sich Gedanken über den kreativen Prozess der Entstehung nonfiktionaler Bücher und Dokumentarfilme. Er referiert u.a. von der Entstehung eines Klassikers der nonfiktionalen Literatur, das bei uns aber weniger bekannt ist – «Let Us Now Praise Famous Men» von James Agee, mit Fotografien von Walker Evans. In den USA gehört das Buch zum Bildungskanon. Ins Deutsche ist es übersetzt unter dem Titel «Preisen will ich die großen Männer». Sowohl im Original wie in der Übersetzung ist der Buchtitel ein Zitat aus dem apokryphen jüdischen Buch Jesus Sirach (44, 1).

Der 27-jährige Journalist James Agee erhielt 1936 vom Magazin «Fortune», das weit oben im New Yorker Chrysler Buidling seine Residenz hatte, den Auftrag, eine Reportage über verarmte Pächterfamilien in Alabama zu schreiben. Im gleichen Jahr ging übrigens George Orwell – der später für seine Dystopie «1984» weltbekannt werden sollte – von London in die Industriestädte von Nordengland, um über den Alltag der Bergleute zu berichten.

Die Arbeit wurde für den jungen Agee zu einer moralischen Krise. Infolge der Krise löste er den Vertrag mit seinem Auftraggeber auf und arbeitete jahrelang am Manuskript auf eigene Faust weiter. Aus einer üblichen Reportage wurde ein Meisterwerk und Klassiker der amerikanischen Literatur.

Eine merkwürdige Arbeit

Worin bestand seine Krise? Er nahm seine Aufgabe, eine Bestandsaufnahme des Lebens seiner leidenden und materiell weniger privilegierten Mitmenschen zu machen, ernster, als es die journalistische Konvention vorsah. Er war nicht gewillt, die übliche Konvention der Objektivität zu übernehmen und sich selbst, die erste Person aus der Erzählung zurückzunehmen. James Agee klagt sich selbst an und schreibt von seinem Ekel an sich selbst als dem Betrachter und seiner Unfähigkeit, das Leid, das er gesehen hat, zu beseitigen. Agee, den wir heute für einen genialen Schriftsteller halten, proklamiert ständig sein Gefühl des Ungenügens gegenüber seiner Aufgabe. Er greift in seinem Text die Institution des Journalismus selbst an:

«Ich nannte die Arbeit, die wir da machten, ‹merkwürdig›. Ich täte gut daran, das etwas näher zu erläutern. Es kommt mir merkwürdig, um nicht zu sagen obszön und durch und durch erschreckend vor, dass es einer Vereinigung menschlicher Wesen, die aus Not und Zufall und Profitsucht zu einem journalistischen Organ zusammengeschlossen sind, einfallen sollte, die Leben einer ungeschützten und entsetzlich geschädigten Gruppe von menschlichen Wesen, einer unwissenden und hilflosen ländlichen Familie, aufs genaueste auszukundschaften, bloß um die Nacktheit, Benachteiligung und Demütigung dieser Leben vor einer weiteren Gruppe menschlicher Wesen zur Schau zu stellen, und das im Namen der Wissenschaft, des ‹redlichen Journalismus› (was immer dieses Paradox heißen mag), der Menschlichkeit, der sozialen Furchtlosigkeit, für Geld und für den Ruf, ein Kreuzritter und Unparteiischer zu sein, der geschickt genug eingesetzt, bei jeder Bank für Geld (und in der Politik für Stimmen, […]) eingetauscht werden kann; und dass diese Leute fähig sein sollten, dieses Vorhaben ohne den geringsten Zweifel an ihrer Befähigung zu einer ‹redlichen› Arbeit und mit einem mehr als reinen Gewissen und in der faktischen Gewissheit einhelliger öffentlicher Billigung zu erwägen.» (Agee, Preisen will ich, 99.)

Scham, Schuldgefühle oder gerechter Zorn?

Überwältigt von der Realität der drei Pächterfamilien zweifelt er daran – und lässt dieses Ringen selbst in seine labyrinthischen Sätze einfliessen –, dass es ihm jemals gelingen wird, einen Text zu verfassen, der diese adäquat wiedergibt. Robert Coles schreibt, heute (Ende 1990er Jahre), in einer Zeit der kulturellen Hochkonjunktur alles Psychologischen, würden die Ausbrüche von Agee als Ausdruck von Schuldgefühlen und Scham («manifestations of ‹guilt› and ‹shame›») gelesen. Es gibt eine psychologisierende Introspektion, welche dem ethischen Wirklichkeitszugang zuwiderläuft. Dagegen gibt er zu bedenken:

«At other moments in history, the strong expressions of personal feeling in an Agee might have been differently regarded – an expression of proper social outrage, or a rightousness quite in keeping with the task at hand: the moral underpinnings of social inquiry.» (Coles, Documentary Work, 6.)

Tatsächlich muss Agees Buch so gelesen werden – als gerechter Zorn. Obwohl Agee den christlichen Glauben seiner Kindheit verlassen hatte, muss der Impetus von «Let Us Now Praise Famous Men» als ein religiöser gesehen werden. Und dessen Stil, der «eindeutig vom Rhythmus und Staccato der heiligen Schriften beeinflusst ist», half Agee gerade, ein nonfiktionales Werk zu schaffen, das die übliche objektivierende Sozialreportage überwindet und den dargestellten Personen ihre Würde zurückgibt. Er wollte Anwalt seiner Protagonisten sein und ihrer Menschlichkeit ein Denkmal setzen.

Zur Ethik nonfiktionaler Porträts

Agee stellt in seinen selbstreferentiellen Passagen direkt in Frage, ob das, was er macht, moralisch vertretbar ist. Diese Frage stellt sich früher oder später auch dem Dokumentarfilmregisseur. Um ein typisches Beispiel dieses ethischen Problems zu nennen: Mit «Titicut Follies» (1967) schuf Frederick Wiseman einen Klassiker des «Direct Cinema» und erfand den Stil, der sein Werk bis heute prägt. Auch hat er mit diesem Film den Grundstein für seine aussergewöhnliche Stellung und Karriere beim öffentlichen Fernsehen in den USA gelegt. Die Wahl des Themas passt zum hohen ethischen, aufklärerischen Anspruch, den der Dokumentarfilm traditionell für sich in Anspruch nimmt. Wiseman filmte in einem Gefängnis für psychisch kranke Täter und deckte die Praktiken der brutalen Einrichtung mit schonungslosen Bildern auf – wodurch der Film 25 Jahre von den Behörden verboten wurde.

Doch durch den Film, die verborgene Aggressivität der Wiedergabe, wurden die Protagonisten zweifach Opfer: Opfer von Misshandlungen durch die Einrichtung und Opfer des Films und meines voyeuristischen Blicks als Zuschauer. «Titicut Follies» ist ästhetisch gesehen faszinierend. Doch wie es um die Ethik – der ethischen Geste zum Trotz – bestellt ist, steht auf einem anderen Blatt.