Die «biblischen Lieder, op. 99» von Antonín Dvořák (1841–1904) sind ein Kunstwerk. Aber sie sind auch mehr als das. Denn die Liedtexte sind aus dem Psalter genommen, aus der heiligen Schrift.
Und damit sind die «biblischen Lieder» von Dvořák auch Gebete, musikalische Gebete. Gebet in Form von Kunst, Kunst als Gebet. Und Antonín Dvořák hat das so gemeint. Er hat einmal gesagt, seine «biblischen Lieder» soll man singen wie ein Gebet.
Über Dvořáks Glauben oder seine theologischen Überzeugungen weiss man auch nach der Lektüre einer Biographie nicht sehr viel. Er war Katholik und soll, so liest man, von einer tiefen Frömmigkeit geprägt gewesen sein. Einerseits war er damit voll im konservativen Mainstream der kaiserlich und königlichen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, zu welcher Tschechien gehörte. Andererseits war er vermutlich doch religiös ernsthafter als sein Zeitgeist, aber das ist schwierig zu beurteilen.
Böhme, aber nicht Bohemien
Der Begriff des «Bohème» bezeichnete auf Französisch ursprünglich jemanden aus Böhmen, also einem der historischen Gebiete der tschechischen Republik. Aber seit dem 19. Jh. verstand man unter einem Bohemien den Typ eines städtischen Künstlers, der (am liebsten in Paris) einen unbürgerlichen Lebensstil pflegt mit wenig Besitz, sehr wenig Geld, aber auch wenig Sorgen, viel Freundschaft und sehr viel Liebe (auch freier Liebe). Ein Bohemien ist nur seinen eigenen Träumen und Idealen verpflichtet und nimmt keine Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen. Er steht da darüber.
Antonín Dvořák war ein Böhme, aber er war doch eher kein Bohemien. Auch er hatte seine Hungerjahre, in denen er sich durchschlagen musste, dann nur einfacher Musiker am Orchester war und für die Schublade komponierte, aber er arbeitete im Stillen hart und arbeitete an sich. Keine Affären sind bekannt von ihm. Der Metzgersohn Antonín Dvořák hat auch, als er schon in Prag lebte, etwas sehr Bodenständiges, Fleissiges und Solides.
Er verliebte sich unglücklich in seine attraktive Geigenschülerin Josefina Cermáková, die später eine berühmte Schauspielerin wurde. Er heiratete dann ihre fünf Jahre jüngere Schwester Anna. Obwohl sie ursprünglich seine zweite Wahl war, soll er ein glückliches und stabiles Eheleben geführt haben.
Er war ein Familienmensch, der seine Abende am liebsten in Gesellschaft seiner Frau und seiner sechs Kinder verbrachte und Karten spielte, selbst noch in New York, als man ihn gerufen hatte als den musikalischen Star aus der «Alten Welt», und zwar mit keinem geringeren Auftrag, als die amerikanische Nationalmusik zu begründen.
Nicht ganz in der Moderne angekommen
Wem würde es nicht in den Kopf steigen, wenn man uns rufen würde, um nichts weniger als der Musik der «Neuen Welt» zur Geburt zu verhelfen?
Gemäss den Zeugnissen, die mir vorliegen, war Dvořák davon unbeeindruckt. Als ein Journalist ihm einmal einen Brief schrieb in einem unterwürfigen Ton, als ob Dvořák irgendein ein Halbgott wäre, da wurde dieser schroff und sagte: «Ich bin und werde niemals etwas anderes sein als ein normaler tschechischer Musikant.» Und tatsächlich war er fast froh, als er sich nicht mehr gebunden fühlte an den Vertrag mit seiner amerikanischen Mäzenin (weil bei ihr das Geld nicht mehr vorhanden war) und guten Gewissens nach Hause zurückkehren durfte. Auch den Ruf an eine Professor am Konservatorium in Wien lehnte er ab.
Er verbrachte seine Zeit tatsächlich am liebsten in seinem Haus namens Rusalka in einem kleinen Dorf auf dem Land, wo ihn die Natur zum Komponieren inspirierte und er sich in der freien Zeit dem Gärtnern und der Taubenzucht widmete. Falls das stimmt, dass Antonín Dvořák wirklich so frei war von den Versuchungen des Ruhms, ist das wirklich nachahmenswert und auch ein Zeugnis einer vormodernen Gemütsart, die nicht nur ans Irdische gebunden ist. Obwohl er versessen war auf Dampflokomotiven und Dampfschiffe wie ein kleiner Junge – so ganz ist er doch noch in der Moderne angekommen. Und gerade das zeichnet ihn aus.
Gott an der Spitze des Turmbaus der menschlichen Kultur?
Wenn man mehr erfahren will über die Spiritualität und den Charakter von Antonín Dvořák, muss man seine Werke auf sich wirken lassen. Er war ja nicht ein Mann des Wortes, sondern der Musik. Er hatte zwar ein Lebensmotto, das überliefert ist: In einer Zeit, da das tschechische Volk wie andere Völker seinen Frühling als unabhängiges Kulturvolk (und bald auch freie Nation) erlebte, und auch er gerne seinen Beitrag dazu leistete, stand für ihn das Vaterland doch nicht zuoberst auf der Werteskala.
Er legte seine Prioritäten gemäss dem in Briefen bezeugten Lebensmotto anders: 1. Gott, 2. die Liebe, 3. das Vaterland. Nach den Dämonien des 20. Jahrhunderts haben wir mehr Fragezeichen als der lebenslustige Antonín Dvořák, ob man Gott einfach so harmonisch an die Spitze stellen kann dieses grossen Turmbaus der menschlichen Kultur, an dem wir, so der Eindruck, mit allen Leuten guten Willens mitbauen.
Gerade diese Hierarchisierung – Gott, Liebe, Vaterland – hat ja auch etwas von einer Relativierung von Gottes Herrschaft. Vermittelt diese Stufenfolge nicht subtil den Eindruck, dass Gott zwar seinen Platz hat aber dafür auch nichts mitzureden hat, wenn es etwa um die Liebe geht, wenn es um das Vaterland geht, dass das Bereiche sind, die wir auch ohne Gott gut verstehen?
Kind seiner Zeit
Für Dvořák wäre diese Frage vermutlich absurd gewesen. Wissen denn nicht alle Menschen unabhängig von ihrer Religion, was Liebe ist? Erst einige Generationen später sieht man, wie die Säkularisierung sich in ihrer Tiefe auswirkt. Nein, auch das Wort «Liebe», hat einen ganz anderen Sinn bekommen, nachdem man es aus seinem christlichen Zusammenhang herausgelöst hat.
Hat es nicht etwas subtil Anmassendes, Gott freundlicherweise noch den obersten Platz zuzugestehen, als ob wir diejenigen wären, welche Platzanweisungen vorzunehmen haben? Ist Christus nicht Herr des ganzen Lebens, des ganzen Universums? Ich hätte Lust, die Frage an sein Werk zu stellen: Hat Antonín Dvořák nur seine geistliche Werke als Christ geschrieben, oder auch seine anderen?
Immerhin, in seinem bekanntesten Werk, in seiner 9. Sinfonie, «Aus der neuen Welt», verarbeitete er Einflüsse von Spirituals der afroamerikanischen Plantagenarbeiter, d.h. vor kurzem noch Sklaven. Diese Gesänge sind zutiefst von einem christlichen Glauben gesättigt, der das ganze Leben im Drama der Erlösung sieht. Aber das ist doch ziemlich weit entfernt von dem Schema: Gott, Liebe, Vaterland.
Hier sehen wir aus meiner Sicht die Grenze von Dvořáks Christentum. Er war Kind seiner Zeit. Dvořák hat nicht Prophetisches wie ein Jeremias Gotthelf, der weit über seine Zeit hinaussah und bereits sah, wie sich die Loslösung von Gott auswirken würde.
Das Werk ist tiefgründiger als der Künstler
Aber wir haben kein Grund daran zu zweifeln, dass Dvořáks Glaube ehrlich und echt war. Und auch bei Dvořák gilt, was für alle Künstler gilt: Das Werk kann tiefgründiger sein als der Künstler.
Seine Psalmenvertonung singen von einem Gott, der beunruhigender ist, als das Kulturchristentum des 19. Jahrhundert ihn kannte. Aber dafür ist auch der existentielle Halt, den er in der Unruhe gibt, tiefer.
Die Texte aus dem Psalter waren also nicht einfach nur Dekor. Er hätte nicht dieselbe Musik zu irgendeinem lyrischen Text verfassen können. Dvořák schrieb sie im März 1894 in Amerika, als er vermutlich in einer melancholischen Stimmung war. Ihn erreichten Meldungen, dass ihm nahestehende Menschen gestorben waren. Und er griff zu einer tschechischen Bibel und meditierte über den Psalmen. Die Montage von Versen aus manchmal zwei oder zwei Psalmen in einem Lied zeugt von einer intensiven Beschäftigung.
Um ihn her ist Wolken und Dunkel,
Feuer gehet vor ihm her und vernichtet alle seine Feinde.
seines Thrones Feste Recht und Gerechtigkeit.
Seine Blitze erleuchten die Welt.
Der Erdball sieht’s
Berge zergeh’n wie Wachs vor dem Herrn,
vor dem mächtigen Herrscher des Weltalls!
Die Himmel verkündigen seine Gerichte und seine Völker schauen seine Ehre!
Diese Worte aus Psalm 97 hat Dvořák ausgewählt für das erste Lied. Es beginnt mit den letzten Dingen – mit der Beschreibung einer Theophanie, also von gewaltigem Erscheinen in seiner Schöpfung. Immer wieder vermittelt Dvořák auch mit Tönen ein Gefühl des Fallens, des bodenlosen Einstürzens.
Die Tiefen der Existenz
Doch dann, im Lied Nr. 2, ändert die Tonart auf Dur:
Du bist, Oh Herr, mein Schirm und Schild
und auf dein Wort ich hoffe! […]
Stärke mich, dass ich genese…
Dvořák hat Texte ausgewählt, die von Anfechtung, von innerer Not erzählen und die geprägt sind von dem Glaube, dass Gott unsere Not wenden wird. Im Lied Nr. 3 wechselt Dur und Moll ab:
Angstvoll schlägt das Herz in mir,
mich packen des Todes Schrecken,
schon fasst mich an kaltes Grauen.
Und hier geht es, weil es eben die Psalmen sind, in die Tiefen der Existenz. Hier zeigt sich Gott als Gegenüber, dem man seine tiefsten persönlichen Ängste anvertrauen kann. Aber kurz darauf folgt das erneute Vertrauen, von diesem Gott gehalten zu sein, mit dem bekannten Psalm 23:
Gott ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er lagert mich auf grüner Weide,
Er leitet mich an stillen Bächen hin!
Er labt mein schmachtendes Gemüt
Und führt mich zu gerechten Wegen zu seines Namens Ruhm.
Und wall’ ich auch im Todesschattentale, so wall’ ich ohne Furcht, denn du begleitest mich.
Dein Stab ist meine Stütze und immerdar mein Trost.
Christliche Sehnsucht nach Heimat
In New York auf dem Höhepunkt seinen weltlichen Ruhms identifiziert sich Dvořák mit dem Juden im Exil. Im Lied Nr. 7 nimmt er Worte aus Psalm 137:
An den Wassern zu Babylon sassen wir und weinten,
wenn wir an Zion gedachten.
Unsere Harfen hingen wir auf an den Weidensträuchern.
Denn die uns in Elend getrieben, forderten Gesang von uns…
Was hörte hier wohlt Dvořák? Sicher dachte er nicht nur daran, dass er in Amerika im (freiwilligen und gutbezahlten) Exil ist und von seinem geliebten Tschechien getrennt ist. Die christliche Sehnsucht nach einer Heimat geht über alle irdische Heimat hinaus. Die Beter aller Jahrhunderte und Jahrtausende haben die Psalmen so gelesen, dass sie die konkreten Erfahrungen der Psalmisten als universelle Wahrheit gehört und für sich persönlich angewendet haben.
Das Exil in Babylon spricht von einer existentiellen Rastlosigkeit, von einer inneren Ungeborgenheit, wie es auch der Kirchenvater Augustinus in Worte fasste in seinem berühmten Gebet: «Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.» Der Liedzyklus hört auf mit Worten aus dem Psalm 98:
Singet ein neues Lied,
singet dem Herrn,
denn er hat Wunder an uns getan!
Wie muss Dvořák das gehört haben, der ja für die Amerikaner das neue Lied schaffen sollte? Einerseits hat es ihn vielleicht daran erinnert: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Und andererseits, und daran erinnern wir uns im Advent: Er hat Wunder an uns getan. Er schafft das Neue, auf ihn allein hoffen wir.
Letztlich kommt auch alles Neue in der Kunst von Ihm.