Im Buch der Sprüche Salomos im Alten Testament steht folgender Satz: «Ein Freund liebt zu jeder Zeit, und als Bruder für die Not wird er geboren» (Sprüche Salomos 17,17). Ich war überrascht von der Schönheit dieses Spruches und denke dabei an Weihnachten.
In der althebräischen Poesie verwendet man Parallelismen, ein Satz hat häufig zwei Teile, die sich entweder spiegeln, steigern oder ergänzen. Deshalb hat auch meine Auslegung zwei Teile:
1.) Ein Freund liebt zu jeder Zeit…
Ich zeige den Schülern vor Weihnachten den Film «Der kleine Lord» (die Version von 1980). Diese unvergessliche und meisterhafte Verfilmung des Romans läuft seit 40 Jahren jedes Jahr wieder neu um Weihnachten im Fernsehen. Ein alter und unglaublich reicher Aristokrat, der Graf (im Film: Earl) von Dorincourt, lebt einsam in seinem weiten Schloss, umgeben nur von Dienern, die eigentlich sehr menschlich und freundlich sind, aber leiden unter seiner tyrannischen Persönlichkeit. Er ist verbittert vom Leben, feindselig gegenüber Menschen, zynisch, kalt. Er ist hartherzig und blind für das himmelschreiende soziale Elend im Wohnquartier seiner Pächter wortwörtlich im Schatten des Schlosses. Die Gicht an seinem Fuss macht den Eindruck eines Menschen komplett, der mit einem Bein schon im Grab steht, der mehr tot als lebendig ist.
Aber dann geschieht etwas, wie das so üblich ist in Geschichten… Sein aufgeweckter 10-jähriger Enkelsohn Cédric wird aus einem Arbeiterviertel in New York als Erbe auf sein Schloss geholt, nachdem alle anderen Erbfolger gestorben sind. Die gute Mutter von Cédric darf nicht auf dem Schloss leben, sondern nebenan in einem Landhaus, aber sie verheimlicht Cédric den wahren Grund, nämlich die tiefe Antipathie des Grossvaters gegenüber ihr als amerikanischen und nicht-adligen Ehefrau seines verstorbenen Sohnes. Mit der Zeit schmilzt der Eispanzer des alten Grafen, er wird weichherzig. Er und Cédric werden die besten Freunde. Sein Leben blüht auf und immer mehr erkennt er in Cédric denjenigen, der seiner hohen Stellung einmal mehr Ehre machen wird. Mit anderen Worten: Der alte Graf wird demütig, er erkennt eigene Schuld und Schwächen ein. Am Anfang wollte er den Jungen erziehen «nach seiner Façon», doch dieser erzieht ihn mit seiner Gnade. Cédric verändert ihn mit seiner bedingungslosen Liebe. Ja, der Earl wirkt am Schluss viel jünger und hat kindliche Züge.
Kein Kind in unserem Dorf ist so rein wie Cédric, kein Kind auf der ganzen Welt. Deshalb ist «Der kleine Lord» auch so ein guter Spielfilm, der eine Sehnsucht in uns weckt. Die Figur des kleinen Lords erscheint zwar realistisch und möglich, aber sie ist doch grösser als alles, was unsere Erfahrung kennt («larger than life»).
Ich sehe in der Figur des kleinen Lords ein Echo von Jesus, ob das bewusst von der Autorin des Romans und dem Regisseur des Films so geplant war oder nicht. Jesus ist der wahre Freund, der uns liebt zu jeder Zeit. Er liebt uns bedingungslos. Er hat uns zuerst geliebt, bevor wir ihn zu lieben lernen.
Wer würde dem alten Grafen ein Freund sein wollen? Sein bester Freund ist ein treuer Diener, der von ihm bezahlt wird. Wer sonst würde in seiner Gegenwart sein wollen, ausser Leuten, die er dafür bezahlt? Niemand, ausser dem kleinen Lord! Cédric wird seinem Grossvater ein wahrer Freund. Er liebt zu jeder Zeit, auch dann, als der Earl nicht liebeswürdig ist. Er kommt in das Leben des alten Grafen und zeigt ihm nur aufrichtige Liebe und Freundschaft. Doch um die Liebe dieses Freundes besser zu erfassen, brauchen wir die zweite Vershälfte.
2.) …und als Bruder für die Not wurde er geboren.
Hier ist von der gleichen Person die Rede, von diesem besten aller Freunde, die man vielleicht nur einmal im Leben hat, wenn überhaupt. Die zweite Vershälfte ist eine Steigerung. Dieser einzige und wahre Freund steht einem noch näher als ein Bruder.
Und wenn jemand so einen Freund hat, wird er von ihm sagen: Das kann nicht Zufall sein, dass ich ihn kenne. Er ist dazu geboren. Und wenn das von jedem wahren Freund in einem gewissen Sinn gilt, dann gilt das bei Jesus wortwörtlich: Er wurde geboren für unsere Not.
Was ist unsere Not? Die guten Geschichten und Filme wie der «Der kleine Lord» sind voll davon. Die Weihnachtslieder sind voll davon. Das majestätische Eröffnungskapitel des Johannesevangeliums spricht auch von unserer Not.
Wir hören im Johannesevangelium (1,14): Und das Wort ward Fleisch…. Es steht nicht geschrieben: Er wurde Mensch, sondern «Fleisch», das ist sehr wichtig. «Fleisch» ist kein rühmlicher Name für uns Menschen. Wenn ihr verstehen wollt, was die Bibel mit dem Wort «Fleisch» meint, denkt nochmals an den alten Grafen, bevor der kleine Lord kam. Ein besseres Bild gibt es kaum, um es zu erklären.
Und das sind wir. Wir Menschen sind wie dieser Grossvater, solange Jesus nicht in unserem Leben ist. Wir tragen den königlichen Adel, im Bild Gottes geschaffen zu sein, aber wir machen unserer Stellung keine Ehre, wir sind tief gefallen, blind und von uns selbst eingenommen, wir sind geistlich gesehen tot.
Die biblische Lehre von der totalen Verdorbenheit der Menschen wirkt in vielen Ohren hart. Aber was sie eigentlich meint, kann man mit dem «Kleinen Lord» gut erklären: Könnte der alte Earl sein Leben von sich aus verändern zum Guten? Könnte er aus eigener Kraft aufblühen? Könnte er ohne Cédric in seinem Leben seine blinden Flecken erkennen? Könnte er ohne Cédric ein guter Mensch und ein glücklicher Mensch werden?
Niemals! So absurd das scheint, wenn man «Der kleine Lord» kennt, so absurd ist es, dass wir Menschen uns selbst lebendig machen können aus dem geistlichen Tod, in dem wir alle sind nach dem Sündenfall unserer Ureltern Adam und Eva. Ebenso unmöglich wie für den Earl ist es auch für uns, aus eigener Kraft die Menschen zu sein, die Gott gemeint hat, die unserer Stellung Ehre machen. So unwahr ist es auch zu meinen, der Mensch habe in sich das Gute, Schöne und Wahre. Nein, unser Herz gleicht dem alten Earl von Dorincourt. Das ist also unsere Not.
Aber jetzt wurde Jesus geboren für unsere Not. Hören wir das Johannesevangelium: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort… (Johannes 1,1–5). Jesus ist ganz Gott, von Ewigkeit her, durch ihn wurde alles erschaffen. Und er wird ein Freund von sündigen Menschen! Der Schöpfer erniedrigt sich selbst aus Liebe. Er wird in armen Verhältnissen geboren, in einem Stall der Tiere. Das steht beispielhaft für die Tatsache, dass er sich erniedrigt hat, indem er in das Fleisch gekommen ist! Er ist der wahre Freund, der uns sucht in unserer Not.
Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus menschlichem Geblüt noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind. (Johannes 1,11–13). Der Herr kam also nicht nur zu den Menschen vor etwa 2000 Jahren, als er geboren wurde in Bethlehem, er kommt heute in unser Leben, indem wir an seinen Namen glauben.
Der alte Earl war mit einem Bein schon im Grab, mehr tot als lebendig. Jesus Christus kam, um geistlich tote Menschen lebendig zu machen. Indem wir an Jesus Christus glauben und seinem Evangelium gehorchen und vertrauen, werden wir vom Heiligen Geist neu geboren. Der alte Earl wird demütig und erkennt seine Schuld, lernt zu lieben und bekommt Freude am Leben. So verändert uns Jesus, wenn er in unser Leben kommt mit seiner Gnade.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit (Johannes 1,15). So wie der Anblick von Cédric den alten Earl und das ganze Schloss verändert, so verändert der Anblick von Jesus Christus uns immer mehr. Wenn in dem kleinen Lord ein gewisser (wenn sicherlich sehr schwacher) Abglanz ist von der Gnade und Wahrheit Jesu, wie ich glaube, um wieviel schöner ist sie in dem wahren Sohn Gottes.
Nicht jeder hat das Glück, auf Erden einen wahren Freund zu haben. Gerade in unserer westlichen Kultur wird die Einsamkeit immer grösser. Aber ob wir einen guten Freund haben oder nicht, die Sehnsucht nach dem wahren Freund, wie der kleine Lord es ist, kann nur von Jesus gestillt werden.
Er ist der wahre Freund, der für unsere Not geboren wurde. Ich hoffe, dass auch du, lieber Leser, liebe Leserin, den Sohn Gottes zum Freund hast.